Von: 202005offenerbriefhh [at] gmx.de
Offener Brief
an den Ersten Bürgermeister, die Zweite Bürgermeisterin und die Senator*innen des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg
Sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, sehr geehrte Frau Zweite Bürgermeisterin, sehr geehrte Senator*innen,
die Coronakrise belastet uns alle. Bis ein Impfstoff verfügbar ist, werden Monate oder gar Jahre vergehen. So lange müssen wir uns darauf einstellen, mit der Pandemie zu leben. Wir anerkennen die bisherigen Anstrengungen des Hamburger Senats und der Bundes-regierung zum Schutz der Gesundheit aller Menschen in Hamburg, Deutschland und darüber hinaus.
Als Familien, als Berufstätige und als Bürger*innen der Stadt Hamburg liegt es uns besonders am Herzen, dass jetzt unverzüglich mittel- und langfristig realistische Lösungen für den Bildungs- und Betreuungsbereich gefunden werden. Diese müssen das Wohl der Kinder, der Eltern und der Lehrer*innen und Erzieher*innen in balanciertem Maße berücksichtigen. Die aktuellen Konzepte für Schulen, Ganztag und Kitas sind unzureichend. Der Präsenzunterricht von wenigen Stunden pro Woche und die vorgegebenen Hygienepläne belasten alle Beteiligten und sind in vieler Hinsicht unpraktikabel. Ganztag und Kitas bie-ten nach wie vor nur eine stark eingeschränkte Betreuung an, die lediglich von einem Bruchteil von Familien genutzt werden kann.
Wir fordern deshalb, dass ab sofort und spätestens für das nächste Schuljahr 2020/21 neue, tragfähige Konzepte für Bildung und Betreuung in Hamburg entwickelt werden mit den Zielen…
… einer nachhaltigen Sicherstellung des Rechts auf Bildung für knapp 200.000 Schüler*innen in Hamburg gemäß Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Kombination mit Artikel 7 Abs. 1 GG, so dass wieder alle Schüler*innen mit zeitgemäßen pädagogischen Ansätzen erreicht werden,
und…
… einer zügigen Rückkehr zu verlässlicher Ganztagsbetreuung entsprechend § 6 KibeG bzw. § 13 HMBSG und im Sinne eines Lebens mit der Pandemie, so dass berufs-tätige Eltern ihrer beruflichen Tätigkeit wieder uneingeschränkt nachkommen und damit zum Wohl der Hamburger Wirtschaft beitragen können.
Das bedeutet konkret:
- Realistische Hygienevorgaben auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Pandemie und unter Berücksichtigung der räumlichen Bedingungen der Hamburger Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, v.a. für Quadratmeter / Person sowie für Beschäftigungsvorgaben / -einschränkungen für Angehörige von Risikogruppen – im Einklang mit den Vorgaben im öffentlichen Raum und für andere Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft.
Rechenbeispiel Flächenbedarf: Eine durchschnittliche vierzügige Grundschule in Hamburg mit ca. 400 Schüler*innen hat laut Musterflächenplan für allgemeinen Unterricht rund 1.600qm zur Verfügung, davon allerdings i.d.R. maximal 1.200qm in Klassenräumen von ca. 50-80qm. Bei einer (unrealistischen) minimalen Übersetzung des Abstandsgebots in einen Platzbedarf pro Kind von 2,25qm würden diese Flächen ohne weiteres ausreichen, um normale Klassenstärken zu unterrichten; bei einer Vorgabe von 10qm / Kind (entsprechend den aktuellen Vorgaben für Ladengeschäfte) dürften allerdings maximal 6-7 Kinder pro Klassenraum unterrichtet werden. Hier braucht es eine vernünftige Vorgabe!
- Pädagogisch fundierte Konzepte für „blended learning“ unter Verwendung von moder-nen digitalen Lehr- und Lernmethoden einerseits und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Selbstlernkapazitäten in Familien andererseits. Dazu gehören auch die kostenlose Bereitstellung von digitalen Endgeräten durch Bildungseinrichtungen und die Entwicklung von kreativen Lösungen für soziales und kulturelles Lernen “mit Abstand” (z.B. für Gruppenzusammenhalt).
- Eine Abschätzung der zusätzlichen Raum- und Personalbedarfe für Lehrerinnen und Erzieherinnen pro Einrichtung, insbesondere eine Abschätzung der “Betreuungslücke” zwischen Schule und Ganztag sowie in Kitas
Anmerkung: Auf Basis erster Schätzungen unsererseits erwarten wir unter den jetzigen Bedingungen einen zusätzlichen Raumbedarf von plus 50% / Einrichtung für Unterricht und Ganztag sowie über einen Mehrbedarf an Personal von mindestens 30%. Zur Deckung des Raumbedarfs sollte unbedingt auch über Konzepte wie projektbasiertes Lernen oder Lernen an anderen Orten nachgedacht werden.
- Für das Schuljahr 2020/21 ein durch die Stadt koordiniertes und finanziertes Programm für
- Bereitstellung zusätzlicher Räume (z.B. freie städtische Gebäude, Container)
- kurzfristige Finanzierung und Organisation eines zusätzlichen Lernbetreuungsprogramms für Schulen (z. B. Lernzeiten mit “loser” Betreuung der Schüler*innen durch Student*innen, Abiturient*innen, Mitarbeiter*innen aus dem Kulturbereich o.ä.)
- mittel- und langfristige Aufstockung der Personalausstattung für Kitas und Ganztag
- einheitliche Pandemie-Eskalationspläne für den zukünftigen Umgang mit insbesondere a) einzelnen Infektionsfällen und b) einer „zweiten Welle“
Klar ist inzwischen:
- Die aktuelle Situation geht zu Lasten von ohnehin benachteiligten Kindern und Familien. Diese leiden nicht nur unter Bildungs- und Betreuungsdefiziten, sondern sind oft auch steigender Gewalt und psychischen Belastungen ausgesetzt.
- Die – finanziellen und emotionalen – Kosten der unzureichenden Lösungen für die Familien werden insbesondere von Frauen getragen, so dass über Jahrzehnte erreichte Fortschritte in der Gleichberechtigung binnen Wochen zerstört werden.
Wir appellieren an die Politik: Die Bildungsschere darf sich nicht noch weiter öffnen! Wir dürfen weder das Wohl der nächsten Generation noch die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik aufs Spiel setzen – auch nicht in einer Krise.
Wir fordern die Politik auf zu handeln: Bildung und Betreuung sind eine gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe, die wir nicht ins Private abschieben dürfen – und schon gar kein nachgelagertes Problem!
Wir erwarten, dass die neuen Konzepte auf Hygienevorgaben beruhen, die auf neuesten wissenschaftlichen Studien basieren, und behördenübergreifend sowie mit Beteiligung von Betroffenen und von Best-Practice-Einrichtungen gemeinsam entwickelt werden. Diese zukünftigen Konzepte müssen echte Hilfestellungen für Kinder, Eltern sowie Lehrer*innen und Erzieher*innen sein – mit zeitgemäßen pädagogischen Ansätzen und modernen digitalen Lösungen.
Wir sind bereit mitzuhelfen, aber wir sind nicht bereit, die unerträgliche Situation weiter hinzunehmen. Nicht als Familien, nicht als Berufstätige – und nicht als Bürger*innen der Stadt Hamburg mit nachhaltigem Interesse am Wohlergehen unserer Stadtgesellschaft.
Hamburg, am 18. Mai 2020
Dr. Anja V. Hartmann, Britta von Schultz
Anja Haegele-Hornig, Anna Pinkerneil, Anne Lahann-Hölscher,
Dr. Armgard Seegers, Beatrix Thann-Koch, Burkhard Glashoff,
Dipl.-Psych. Carola Genske-Rabe, Carsten Neitzel, Dr. Cathrin Sikor,
Daniela Meissler, Donata Stürken, Iris Gietzelt, Jens de Buhr,
Jens Mitzscherlich, Julia Sasse, Karin Leibrock, Dr. med. Katrin Flohr,
Katrin Burseg, PD Dr. med. Katrin Schröder, Katja Kraus, Dr. Katrin Suder,
Prof. Dr. Larissa Krex, Malte Greve, Manfred Miglbauer, Maria Conzelmann, Dr. Miriam Krieger, Mirja Bauer, Dr.-Ing. Olaf Rupp, Dr. Rixa Dippe,
Sonja Ostendorff-Rupp, Stefan Hornig, Steffen Conzelmann, Sven-Olof Reimers, Silvia Funke, Sven Töllner, Thurid Kahl, Dr. med. Tina Busch, Tobias Lucht
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